Dekantieren – oder besser nicht?
Wann macht Dekantieren Sinn?
Zu diesem Thema werden die unterschiedlichsten Auffassungen vertreten und im Brustton der Überzeugung (manchmal auch mit fast religiöser Inbrunst) weiterverbreitet. Im Folgenden versuche ich, dieses Thema auf rationale Argumente zu reduzieren.
Dekantieren, das Umfüllen von Wein aus der Flasche in ein anderes Behältnis, kann aus praktischen Erwägungen sinnvoll sein: aus einer Großflasche lässt es sich schwer einschenken. Was bei einer Magnum keine Probleme macht, einer Doppelmagnum schon sehr viel Geschick erfordert und z. B. ab Imperial aufwärts so ziemlich unmöglich wird, das Einschenken in ein Glas, erfordert u. U. das Umfüllen in Karaffen, aus denen dann eingeschenkt werden kann.
Das oft zitierte Vermeiden des Einschenkens von bitter schmeckendem Depot, stellt keinen zwingenden Grund dar. Man kann das, vorausgesetzt die Flasche hat einige Zeit aufrecht gestanden und das Depot hat sich am Boden gesammelt, auch durch entsprechend vorsichtiges Einschenken erreichen. Mit etwas Geschick bleibt da auch nicht mehr Wein in der Karaffe zurück, als beim Dekantieren. Wer wirklich den letzten Tropfen des guten Stoffs ins Glas bringen will kann es dann immer noch mit einen Dekantiertrichter und/oder eine geschmacksneutrale Tee-Filtertüte versuchen. Burgunder muss man übrigens nicht zu dekantieren: das Depot schmeckt und kann mitgetrunken werden.
Lässt man diesen praktischen Gesichtspunkt außer Acht, gibt es zwei Meinungen (mit Variationen) unter den Experten:
Weitverbreitete Meinungen
1.) Wein, besonders junger Wein, muss dekantiert werden, damit er mit Sauerstoff in Berührung kommt und sich optimal entfaltet.
2.) Dekantieren schadet der Qualität des Weins.
Die Gruppe 1 begründet ihre Auffassung mit dem (subjektiven) Eindruck, dass einige Zeit vorher dekantierter Wein sich im Geschmack positiv (runder, weicher, fruchtiger) von soeben entkorktem Wein unterscheidet. Das kann aber auch davon kommen, dass sich der Gaumen nach dem ersten Schluck an den Wein gewöhnt hat oder dass während der Zeit des „Lüftens“ in der Karaffe das in der Zwischenzeit genossene Essen den Geschmackseindruck verändert. Jens Priewe schreibt dazu: „ ... man dekantiert junge, verschlossene, tanninreiche Rotweine um sie zu belüften und dadurch genießbarer zu machen. Solche Weine öffnen und runden sich durch den verhältnismäßig starken Sauerstoffkontakt.“ Meiner Meinung nach hätte er wohl besser „zu junge Rotweine“ geschrieben, denn der beschriebene Effekt deutet doch stark auf „Kindermord“ hin, begangen an einem Wein, der eigentlich noch nicht getrunken werden sollte.
Gruppe 2 zitiert wie Gruppe 1 subjektive Geschmackseindrücke, die ich persönlich allerdings nur unter bestimmten Voraussetzungen, nachvollziehen kann. Emile Peynaud, Oenologe und unbestrittener Meister des Wissens um den Wein, ist der Auffassung „... wenn es überhaupt nötig ist, sollte man zum spätmöglichsten Zeitpunkt dekantieren, unmittelbar bevor man den Wein trinkt.“ Das ist richtig, falls es sich um einen hinreichend gereiften aber noch nicht voll ausgereiften Wein handelt. Und falsch, falls es sich um einen alten, vollreifen Wein handelt. Denn der Kontakt mit Sauerstoff lässt den edlen Tropfen sehr schnell umkippen und spätestens nach einer halben Stunde erschlägt die Oxidation das Aroma und der Wein stirbt in Minuten-sprüngen. Das Schwenken eines vollreifen Weins im Glas („damit sich das Bukett voll entwickelt“), hat übrigens den gleichen mörderischen Effekt.
Hugh Johnson, ebenfalls unumstrittener Experte, meint (so wie ich), dass sich Wein auf jeden Fall durch Dekantieren verändert. Ob positiv oder negativ hängt vom Wein und dem persönlichen Geschmack ab.
Wer hat Recht? Keine Ahnung! Am Besten ist es, Sie probieren das selbst aus, um Erfahrungen zu sammeln und sich eine eigene Meinung zu bilden. Nehmen Sie zwei Flaschen, dekantieren Sie Eine und öffnen Sie die Zweite ein oder zwei Stunden später, bevor Sie mit der „Vergleichsprobe“ beginnen. Eine „wissenschaftlich einwandfreie“ Methode ist das nicht, die beiden Flaschen können durchaus den gleichen Wein enthalten und auch ohne Dekantieren trotzdem unterschiedlich schmecken, aber es liefert a) einen Hinweis, es macht b) Spaß und es liefert c) eine Ausrede (sofern man die überhaupt braucht) ab und zu mal einen guten Wein zu genießen. Eines sollten Sie aber beachten: Gute, etwas ältereWeinee am Anfang ihrer Reife sollte nach spätestens zwei Stunden ausgetrunken sein, denn danach bauen sie unweigerlich ab.
Voller Misstrauen sollten Sie Leuten begegnen, die erzählen, wie phänomenal sich der Rest in der Flasche über Nacht entwickelt hat. Das bedeutet lediglich, dass eine Flasche lange vor ihrer Zeit geöffnet und dann durch stundenlangen Kontakt mit der Luft überhaupt erst genießbar wurde. Diese Flasche hätte eigentlich nicht geöffnet werden sollen und das „Aha-Erlebnis“ am nächsten Morgen ist nur ein müder Abklatsch dessen, was der gereifte Wein geboten hätte.
Jetzt stellen Sie wahrscheinlich (und zu recht) die Frage, welche Weine man denn wann dekantieren sollte und welche nicht. Gleich vorweg: das weiß ich auch nicht so genau! Ich kann Ihnen aber auflisten, welche Erfahrungen ich gemacht habe:
Dekantieren:
Relativ junge, extraktreiche oder tanninstarke Rotweine. Wenn man schon unbedingt Kindermord begehen will, eignen sich hierzu am besten Karaffen, in denen der Wein der Luft eine große Oberfläche darbietet. Diese Weine können durchaus zwei bis vier Stunden vor dem Genuss dekantiert werden. Jungen, kräftigen Weißweinen (z.B. Graves, manche weiße Burgunder) kann das Dekantieren ebenfalls gut tun.
Nicht dekantieren:
Vollreife und alte Weine. Die Gefahr, dass sie durch „Luftschock“ in kürzester Zeit „sterben“, ist zu groß. Meine Erfahrung ist es auch, dass vielen reinsortigen Weinen, z. B. Pinot Noir (Burgunder), Sangiovese, Tempranillo, Refosco, das Dekantieren nicht bekommt. Auch habe ich festgestellt, dass merkwürdigerweise Chateauneuf du Pape (immer eine Cuvée aus bis zu 14 Weinen) das Dekantieren nicht zu vertragen scheint. Warum das so ist, kann ich nicht sagen. Es sind lediglich Erfahrungen aus unzähligen „Selbstversuchen“. :-)